
Das Wissen der Menschheit nimmt von Tag zu Tag zu und logisch wäre, wenn dies nicht linear, sondern eher exponentiell geschehen würde. Die Schulen, Universitäten, die Forschungs-, Entwicklungsinstitute und -abteilungen der Unternehmen forschen, basteln, denken, dokumentieren, probieren, bauen und tüfteln Tag ein, Tag aus und überall auf der Welt. Nahezu 8 Milliarden Menschen machen Rund um die Uhr Fehler und lernen daraus. Es wäre schon verwunderlich, wenn da nicht auch viel Neues dabei wäre. Wir lernen und lernen. Als Menschheit, nicht als Individuum. Leider.
Sieht man sich z.B. die Forderungen der „Fridays for Future“-Bewegung an, ist vordergründig völlig logisch, dass wir besser alles genauso machen sollten, wie dort vorgedacht. Wir sägen kontinuierlich an dem Ast, auf dem wir sitzen. Die Kreativität, mit der diese Forderungen in ein absurdes Licht gestellt werden sollen, ist zum Teil traurig und zum Teil lächerlich. Bewahrung des Staus Quo scheint ein Grundprinzip unserer Kultur hier in Deutschland zu sein. Da wundert man sich manchmal, wie es der Mensch geschafft hat, von den Bäumen herunter zu kommen.
Es gibt eine sehr schöne, weil einfache Darstellung menschlicher Bedürfnisse in Form einer Pyramide, die Maschlowsche Bedürfnishierarchie. Wir stehen als Gesellschaft schon sehr weit oben in dieser Pyramide und unsere sozialen Sicherungssysteme sorgen auch dafür, dass nur einzelne durch das Raster fallen können. Was passiert wohl, wenn man uns von der Spitze der Pyramide herunter schubst?
Wie soeben mehrfach geschehen.
Weiter ausgeholt würde ich in der näheren Geschichte mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 beginnen wollen. Ein grundlegender Zweifel an unserem Finanzsystem konnte durch enorme Anstrengungen von Politik und Wirtschaft verhindert werden. Es gibt durchaus Fachleute und Experten, die diese Anstrengungen kritisch sehen. Eine Reformoption für unser Währungssystem sei hier verpasst worden. Einzig der Zusammenbruch bleibt und steht mehr oder weniger bevor. Verschwörungstheorie oder drohende Wirklichkeit? Letzteres würde uns wohl in der zweit-untersten Stufe der Pyramide erschüttern, was die drei höheren Stufen in den Hintergrund drängen würde.
Oder ganz aktuell die Pandemie. War und ist Corona ein „schlimmer“ Virus? Oder proben wir nur den Ernstfall? Hier ist sehr schön bewiesen worden, zu welchen Einschränkungen eine Gesellschaft fähig ist, die sich auf der zweiten Etage bedroht fühlt. Das Thema Gesundheit spielt hier sogar bis auf das Erdgeschoss mit. Da ist viel möglich. Bis hin zum Lockdown. Bis hin zum Umstand, dass Westfalen nicht mehr nach Bayern einreisen dürfen. Wir sind ein Volk. So, so…
Aber was mussten wir während des Lockdowns lernen? Es geht doch? Echt jetzt? Ohne Fliegen, ohne Bus- oder Kreuzfahrt-Reisen, ohne beruflich täglich 2 Stunden auf der A1 im Stau zu stehen? Selbst ohne Schule? Inwiefern die Digitalisierung nicht auch seine Klimaprobleme hat, weil Myriaden von Prozessoren, Speicherchips und Festplatten betrieben und gekühlt werden müssen, sollten wir an anderer Stelle beleuchten. Im Moment ist der Digitalisierungszug jedenfalls das Schweizer Offiziersmesser unter den Lösungsansätzen. Online-Meetings im Job und abends mit den Freunden aus dem Nachbardorf, Schule in der App, es geht, wenn auch noch schleppend. Aber das liegt nur an den Beteiligten, hört man aller Wegen.
Ja? Ist das so?
Der Mensch ist ein Herdentier. Ihm seine Sozialkontakte körperlich zu entziehen ist ein Experiment, dessen Verlauf man sich in Finnland ansehen kann. (Mal ein Buchtipp dazu: https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/die-spinnen-die-finnen-9783548920412.html) Als frankophiler Deutscher finde das eher dystopisch.
Apropos Dystopien: und nun auch noch das Auto. Der wirtschaftliche Niedergang des ur-deutschen, goldenen Kalbs wird aktuell durch die Corona-Krise überdeckt. Aber dass hier mehrere Paradigmen-Wechsel bevorstehen, bzw. sich aktuell schon in den Anfängen vollziehen ist offensichtlich. Das Auto hat seine Funktion als Statussymbol verloren. Besitz wird für viele Menschen immer sinnloser. Man leiht, least, mietet was das Zeug hält. Eine Maschine für mehrere 10 Tsd. Euro die 90 % ihrer Lebenszeit auf dem Hof steht ist irgendwie doch nicht attraktiv. Und wenn man dann noch mit dem Fahrrad fährt, weil man endlich einen freien Parkplatz ergattert hat, wird es absurd. Sobald wir autonomes Fahren in der echten Welt haben, kann ich mir mein Fahrzeug jederzeit passend einfach kommen lassen. Wie praktisch. Bloß dass wir dann nur noch einen Bruchteil der Einheiten brauchen, die aktuell in irgendwelchen Höfen oder auf irgendwelchen Parkplätzen herumstehen. Die arme Industrie, die armen Menschen, die dort arbeiten, die armen Unternehmer, die damit ihre Umsätze machen.
An dieser Stelle verweise ich auf die Pyramide. Wo stehen wir dann? Oder haben wir bis dahin schon eine Ebola-Variante an den Hacken? Zum Glück gibt es ja offensichtlich sehr viele Virologen. Soviel zum Thema Sicherheitsgefühl.
Ich verweise aber auch wieder an die Leute von „Fridays for Future“. Es nicht weniger als die Sinnfrage, die heute gestellt werden kann und darf. Dies eben, weil wir so weit oben auf der Pyramide leben. Und dies auch völlig zu Recht. Hier steht nicht weniger als unser Konsumverhalten auf dem Prüftisch und aus der Ferne betrachtet ist glasklar, was zu tun ist. Aber wie bei jeder Diät ist es das Fleisch, das schwach ist. Und Konsumverzicht würde die Finanzkrise wieder aufwallen lassen.
Wollen wir das? Oder machen wir einfach weiter, bis wir den Ast endlich durchgesägt haben und bis zum Aufschlag noch denken dürfen: „Fallen ist gar nicht so schlimm.“ Es liegt an uns.
Text zu Oliver Brenscheidt.